Die Schönaus und Leipzig I: Lotte sieht den Kaiser

Leipzig als Schauplatz für die Schönau-Bücher wurde nicht zufällig gewählt. Anders als die Geschehnisse und einige der Charaktere in den Büchern hat Leipzig zwar kaum Verbindung zu  meiner Familiengeschichte, aber mir ist diese wunderschöne Stadt persönlich sehr wichtig. Ich war beim ersten Besuch – der nun fast genau zehn Jahre zurückliegt – sofort ganz hin und weg. Für jeden Geschichtsinteressierten ist Leipzig eine wahre Fundgrube, für jeden Literaturinteressierten ebenso (und Goethe muß ich hier ja wohl nicht extra erwähnen), aber auch die so wundervoll restaurierten Gebäude der Innenstadt, die Gründerzeitpracht im Waldstraßenviertel sind atemberaubend. Und dann hat Leipzig einfach eine angenehme Atmosphäre – städtisch und doch gemütlich, mit herzlichen Menschen.
Genug der Leipzighymnen – auch wenn ich noch ziemlich lange so weitermachen könnte. In knapp zwei Wochen werde ich auf zwei Lesungen (am 22.03 und 23.03)  die Schönaus bei „Leipzig liest“ genau in der Stadt vorstellen können, die mir so wichtig ist und in den Büchern eine große Rolle spielt. Das ist eine besondere Freude für mich! Im Februar wurden die Schönaubücher im Leipziger Kulturmagazin ZeitPunkt auf Seite 20/21 bereits als „Leipziger Lektüre“ vorgestellt. Nun möchte ich gewissermaßen als Einstimmung auf die Leipziger Buchmesse einige Buchauszüge präsentieren, in denen Leipzig eine größere Rolle spielt. Der folgende (gekürzte) Ausschnitt spielt 1913, zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals.

Die fast vierjährige Lotte zappelte ungeduldig, während Mathilde verzweifelt versuchte, die langen goldbraunen Locken des Mädchens ordentlich zu bürsten.
„Das ziept!“
„Nu, da musste stille halten, dann ziept ooch nischt,“ sagte Mathilde ungerührt, küsste ihrem kleinen Schützling aber sofort tröstend den Kopf. Mathilde, ein pausbackiges robustes Bauernmädchen mit einem bemerkenswert dichten geflochtenen Kranz aus pechschwarzem Haar, war vor einiger Zeit vom Gut von Lottes Großeltern im Weimarischen nach Leipzig gekommen, um im Haushalt der Schönaus ein wenig städtischen Schliff zu lernen. Dies war bislang von Misserfolg gekrönt, aber Mathilde hatte ein sonniges Gemüt, arbeitete hart und kam zudem noch hervorragend mit Lotte und ihrer zweijährigen Schwester Dorothea zurecht.
Lotte zog eine Schnute und bemühte sich, ruhig zu stehen, sagte aber trotzdem: „Das dauert zu lang. Ich verpass noch den Kaiser!“
„Du wirst ‘n Kaiser schon noch sehen. Und ‘n König Friedrich, den ooch,“ meinte Mathilde, der der volkstümliche sächsische König viel lieber war als der Kaiser im fernen Berlin.
„So!“ sagte sie schließlich. „Nu noch de Schleife und dann gannste dich der Mutti zeigen gehen.“
Sie befestigte die riesige cremefarbene Schleife in Lottes glänzendem Haar und sah das kleine Mädchen zufrieden an. Lotte hatte die gleichen zarten Gesichtszüge wie ihre Mutter Luise, eine schlanke Nase über einem schmalen Mund, der bei Bedarf ganz hervorragend schmollen konnte. Ihre hellbraunen Augen dagegen waren groß und blitzten meistens vor guter Laune, denn Lotte war ein ausgesprochen fröhliches Kind, umgeben von Menschen, die sie liebten und verwöhnten.
Für diesen besonderen Tag trug sie ein knielanges beiges Kleid mit Spitzen, welches sonst nur an Sonntagen und wichtigen Feiertagen angezogen wurde; weiße Söckchen und Schuhe vervollständigten das Bild. Für Lottes Vater Wilhelm war die heutige Einweihung des Völkerschlachtdenkmals, mit Anwesenheit von Kaiser und König, ganz definitiv ein solch wichtiger Feiertag.
Lotte lief beschwingt die Treppen hinunter zum Schlafzimmer der Eltern, wo sie an die Türe klopfte und mit mühsamer Geduld wartete, bis ihre Mutter „Herein,“ rief. Lotte stürmte ins Zimmer. „Schau mal, Mutti, wie schön ich bin!“
Luise Schönau legte ihr Buch zur Seite und streckte lächelnd die Hand aus, woraufhin Lotte prompt auf das hohe Bett kletterte und sich neben die Mutter setzte. – „Ganz wunderschön bist du, mein Lottchen. Der Kaiser wird Augen machen, wenn er dich sieht.“
„Du kommst wirklich nicht mit?“
„Ich kann nicht. Dein Geschwisterchen will jetzt bald auf die Welt kommen und ich muss hier warten.“
„Kann der Storch das Geschwisterchen nicht einfach Mathilde geben, wenn du weg bist? Sie nimmt doch auch sonst die Lieferungen.“
Luises feiner Mund zuckte amüsiert und sie strich ihrer Tochter über den Kopf. „Da würde das Geschwisterchen aber enttäuscht sein, wenn es nicht von seiner neuen Mutti erwartet wird. Das würde dir auch nicht gefallen.“
Das sah Lotte ein.

Die Straßen, Plätze und Häuserfassaden waren festlich geschmückt, überall wetteiferten die weiß-grüne Fahne Sachsens und das Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreiches. Click Wilhelm bog mit seiner Tochter in den Marktplatz ein und Lotte stockte der Atem. Ein buntes Treiben herrschte auf dem Platz, zahlreiche Stände boten Kunstgewerbe, Rostbratwurst, Fahnen, Kaiserpostkarten und ähnliche Souvenirs an. Die Musik einer Militärkapelle war aus der Ferne zu hören, und die Leute eilten gutgelaunt über den Platz, viele in ihrer Sonntagskleidung.
An der linken Seite des Marktplatzes erhob sich das Alte Rathaus, welches mit seinem vieleckigen Uhrenturm, der hellen Fassade und den zierlichen Arkaden schon fast gemütlich aussah.
Wilhelm betrachtete das strahlende Gesicht seiner kleinen Tochter mit Freude. Zu gerne hätte er ihr die vielen Herrlichkeiten von Leipzig gezeigt und ihr all die historischen Begebenheiten und kleinen Anekdoten der Stadt erzählt, aber er wusste, dass sie dazu noch viel zu klein war. Eine wichtige Sehenswürdigkeit aber wollte er ihr jetzt nicht vorenthalten. Er bog mit ihr in die belebte Grimmaische Straße ein und hielt vor der Alten Börse an, wo er Lotte hochhob und auf die Statue vor der Börse zeigte.
„Gugge mal, den kennst du doch?“
„Goethe!“ krähte Lotte triumphierend. Den kannte sie, der war zu Hause überall vertreten. Im Wohnzimmer stand in einem Bücherschrank, der ausschließlich den Werken Goethes vorbehalten war, eine Büste, das Arbeitszimmers des Vaters zierte ein großes Bild des Dichters (größer als das des Kaisers, was von der Großmutter regelmäßig gerügt wurde) und im zweiten Stock hing eine Radierung gegenüber der Treppe, so dass man Goethe jedes Mal in die ernsten Augen sah, wenn man die Stufen hochging. An der Wand über Lottes Bett hing ein Bild, das sie sehr liebte; ein junges Mädchen, welches ebenfalls Charlotte hieß, stand dort in einem bauschigen Kleid und schnitt von einem Laib Brot für die sie umgebende Kinderschar Scheiben ab. Auch dies Bild hatte irgendwas mit Goethe zu tun, so viel wusste Lotte.
„Richtig, mein Modschekiebchen,“ lobte Wilhelm. „Nun auf zum Kaiser. Soll ich dich ein Stück tragen?“
„Oh ja!“ Lottes kleine Beine waren reichlich müde geworden.
Am Augustusplatz schaute Wilhelm, ob er im Café Français seine Mutter sah. Click Augusta Schönau würde sich nie unter das Volk mischen, um einen Blick auf den Kaiser zu erhaschen, den sie ohnehin schon häufiger gesehen hatte, aber Wilhelm konnte sich vorstellen, dass sie mit Freundinnen im noblen Kokon des Cafés saß und über die einfachen Leute die Nase rümpfte.
Er sah sie aber nicht und ging mit Lotte zu der baumbestandenen Straße, die am Neuen Theater vorüberführte, und wo die Leute schon standen, um Kaiser und König vorbeifahren zu sehen. Click Wilhelm drängelte sich geschickt ein wenig nach vorne, das niedliche Gesicht und die aufgeregt glänzenden Augen von Lotte stimmten die Leute milde und eine ältere Frau drückte dem Mädchen sogar eine kleine schwarz-weiß-rote Fahne in die Hand und sagte: „Nu siehste gleich den Kaiser, meine Kleene.“
Schließlich hörte man die Militärkapelle nahen und dann sah Lotte eine Prozession an Reitern und Pferdekutschen die Straße entlangkommen. Irgendwann riefen verschiedene Leute: „Da ist er! Der Kaiser!“ und Wilhelm sagte: „Schau, in der Kutsche da sitzt er, der Kaiser, und da ist der König!“
Lotte fand, dass die uniformierten Männer sich alle recht ähnlich sahen, aber sie spürte die Aufregung in der Stimme ihres Vaters und ihr kleines Herz klopfte heftig, weil sie so einen wichtigen Augenblick miterleben durfte. Eifrig wedelte sie mit ihrer Fahne in Richtung des Kaisers und winkte mit der anderen Hand. Als der Kaiser in ihre Richtung schaute, war Lotte ganz sicher, dass er sie direkt ansah und es ihm gefiel, wie sie ihm zujubelte.
„Ich hab den Kaiser gesehen!“ rief sie.

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