Der gebürtige Friedberger Herfried Münkler hat sich 1983 daran gemacht, Zeitzeugenberichte über die letzten Kriegstage in Friedberg zu sammeln. Ergänzt durch offizielle Dokumente entstand somit ein detaillierter Blick darauf, wie jene Wochen im März bis Mai 1945 erlebt wurden. Auch wenn dieser Bericht auf Friedberg bezogen ist, so steht er doch exemplarisch für ähnliche Erfahrungen, die zu der Zeit auch in vielen anderen Städten gemacht wurden und veranschaulicht gut den im Titel erwähnten „Machtzerfall“. Ich fand es schön, die mir recht bekannte Stadt Friedberg beim Lesen veranschaulichen zu können und werde beim nächsten Besuch dort viele Orte mit neuem Interesse anschauen.
In Vorworten zu den 2005 und 2015 erfolgten Neuauflagen berichtet Münkler Hintergründe und Vorgehensweise, gibt auch wertvolle Informationen über die Situation und Denkweisen in den frühen 80ern. Während ich damit aufgewachsen bin, daß das Kriegsende für Deutschland eine Befreiung war, ist dies in den 80ern laut Münkler nicht unbedingt die vorherrschende Meinung gewesen. Er erklärt dies nachvollziehbar: „Der Rückblick auf die Ereignisse (…) war bei vielen der befragten Zeitzeuge noch von der Erinnerung an getötete Angehörige geprägt, und wenn es sich bei diesen um Kinder handelte, die bei amerikanischen Bombenangriffen auf Friedberg getötet worden waren, so war für die Betroffenen nichts ferner liegend als die Vorstellung einer Befreiung. Das hat sich mit dem Generationenwechsel, der seitdem stattgefunden hat, grundlegend geändert.“ Über das ganze Buch hinweg schafft der Autor es gut, auf veränderte Sichtweisen aufmerksam zu machen, Äußerungen in den Kontext zu stellen und zu einer unvoreingenommenen Betrachtungsweise anzuregen. Er ist angenehm neutral, bietet immer wieder verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an, ohne eine davon vorzuschreiben, scheut sich aber auch nicht davor, grausame, feige oder nach allen Standards abscheuliche Verhaltensweisen als solche zu benennen. Das bringt eine gute Ausgewogenheit in den Bericht, ohne daß die notwendige kritische Betrachtungsweise verloren geht.
Ein großer Teil des Buches beschäftigt sich mit den letzten Kriegstagen und damit, wie sich die Stadt auf den zu erwarteten Vormarsch der Amerikaner vorbereitete. Es verlief nicht viel anders als überall in der Diktatur: „fanatischer Widerstand“ war die Parole, militärisch sinnloser Kampf unter freudiger Opferung des eigenen Lebens – vorwiegend verkündet von Leuten, die selbst die erstbeste Gelegenheit nutzten, um sich in Sicherheit zu bringen. Münkler kann auf detaillierte Berichte der direkt Beteiligten zurückgreifen und so Einblicke liefern, die uns oft in solcher Genauigkeit nicht zur Verfügung stehen. Er beschreibt zB die Situation des Kampfkommandanten Henrich, der entschlossen war, die Stadt kampflos zu übergeben, um weiteres Sterben zu verhindern, der sich damit aber in große Gefahr begab und sein Vorgehen konspirativ angehen und sich genau überlegen mußte, wen er ins Vertrauen ziehen konnte. Diese Szenen sind lebendig beschrieben, wie zum Bespiel Henrichs Erinnerung daran, wie er mit dem Kommandanten Brack (einer jener, die sich rasch absetzten, als es Ernst wurden) darauf anstoßen mußte, daß er sein Leben der Verteidigung Friedbergs opfern würde. („In Friedbergs altehrwürdiger Burg werden Sie Ihren letzten Widerstand leisten und dann unter den Trümmern dieser historischen Stätte in die Geschichte der Stadt Friedberg eingehen? Darauf wollen wir einen trinken, mein lieber Henrich, Prost?“ – Ein wahrhaft gruseliger Trinkspruch, der diese Zeit und ihren Irrsinn hervorragend zeigt.)
Die Ereignisse bis zur letztlichen Übergabe Friedbergs an die Amerikaner sind minutiös beschrieben – für meinen Geschmack manchmal etwas zu detailreich, insbesondere wenn es um die ganzen militärischen Bewegungen ging, mit genauen Informationen, welche Panzer wo standen und welchen Weg sie nahmen. Andererseits war die anschauliche, mit vielen passenden Zitaten angereicherte Schilderung meistens sehr spannend. Die Ausweglosigkeit dieser Tage, in der der Fanatismus immer noch so erschreckend blühte, kommt durch die Einzelschicksale und Zitate gut hervor.
Was mir in diesem Abschnitt fehlte, waren die Erinnerungen der normalen Bürger. Wir erfahren fast nur die militärische Komponente und Zitate von Soldaten. Die Zivilbevölkerung kommt nur am Rande vor. Das mag daran liegen, daß dem Autor keine dieszbgl. Quellen vorlagen, aber es war ein wenig enttäuschend, daß diese aufregenden Tage so einseitig berichtet wurden. Dies ändert sich mit der Beschreibung der ersten Besatzungswochen, auch wenn es weiterhin fast keine Zitate aus Erinnerungen der Zivilbevölkerung gibt.
Was mich auch an mehreren Stellen störte, war des Autors Angewohnheit, Dinge mehrfach hintereinander zu erklären. Dreimal die gleiche Information in leicht veränderter Wortwahl zu lesen, ist etwas frustrierend. Auch wurden manche leicht verständlichen Zitate übertrieben ausführlich erklärt. So sehr ergänzende Hinweise oft nützlich und hilfreich waren, sie waren auch häufiger nicht nötig.
Im Ganzen aber ist es ein gut geschriebener Bericht, der sich leicht lesen läßt und vielfältige Informationen gibt. Für jeden, der sich für jene Frühlings- und Frühsommertage des Jahres 1945 in Deutschland interessiert, ist dies ein nützliches und unterhaltsames Buch.