Ich bin öfter gefragt worden, warum die Geschichte der Schönaus 1957 aufhört, warum ich das Leben einer der Hauptcharaktere in der DDR nicht beschrieben habe. Ich habe damals sehr kurz daran gedacht, nur einen Moment lang, und wußte sofort, daß ich diesem Thema keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, es nicht annähernd beschreiben kann. Dazu bin ich einerseits zu spät geboren und zudem nicht in der DDR. Das habe ich auch in meiner gerade stattfindenden Leserunde genau so erklärt und geschrieben, daß ich der Meinung bin, daß kein Westdeutscher über das Leben in der DDR schreiben kann. Dem haben die Leserundenteilnehmer zugestimmt und konnten teilweise aus eigener Erfahrung berichten, daß man als Westdeutscher auch nach zwanzig Jahren des Lebens in der ehemaligen DDR nie annähernd begreifen kann, wie das Leben in der DDR war, wie es nachwirkt.
Die DDR bleibt für uns, die wir es nicht erlebt haben, im wahrsten Sinne des Wortes unbe-greif-lich, ungreifbar. Ich bin zwar ein wenig mit diesem Land aufgewachsen, denn die jährlichen Besuche bei der Verwandtschaft in Thüringen waren Teil meiner Kindheit. Ich erinnere mich noch zu gut an den schwarzen Zaun, der sich ins Blickfeld schob, wenn der Interzonenzug sich der innerdeutschen Grenze näherte. Ich erinnere mich an den langen Halt des Zuges in Gerstungen, die Stille, die sich über das Abteil gelegt hatte, die Stille auch draußen (kein Vogelgezwitscher weit und breit – ein kleines, aber einprägsames Detail. 1990 gab es immer noch Aufenthalt, aber da zwitscherten die Vögel). Ich kann bis heute nicht in die ehemalige DDR fahren, ohne bei der Vorbeifahrt an Gerstungen an jene Zeit zu denken; bei einer Wanderung auf der „Point Alpha Route“, die teilweise an der ehemaligen Grenze vorbeiführt (daher rührt auch das Foto über dem Beitrag), war ich emotional richtig aufgeschüttelt.
Beim Besuch in der Runden Ecke in Leipzig vor fast genau zehn Jahren fiel mir der typische DDR-Behördengeruch auf, der seltsamerweise immer noch in den Räumen herrschte (ob es mit dem Putzmittel Wofasept zusammenhängt, wie Rainer Schneider mir in der Leserunde sagte und wie es in diesem interessanten Artikel beschrieben wird?) und mich gleich an die Anmeldung auf der Polizei erinnerte, die bei jedem Besuch der DDR zu erfolgen hatte. Mir lag immer ein kleiner Stein im Magen, bis diese Anmeldung erledigt war.
Mehr Erinnerungen: die Spruchbänder allenthalben, die Gebäude in diesem typischen DDR-Braungrau, die zahllosen Formulare auf grauem Papier, die ich vor Einreise ausfüllen mußte. Meine Thüringer Verwandten, die mir, einem in Westdeutschland lebenden Kind, zu erklären versuchten, daß man in der DDR nicht einfach hinausgehen und seinen Unmut mit der Regierung kundtun könne. Ja, diese Erinnerungen sind noch sehr präsent, aber letztlich sind es die Erinnerungen einer Westdeutschen, die Erinnerungen an zwei Wochen im Jahr, an einen Besuch in einer seltsamen, aber für mich nicht nachteiligen Umgebung. Ich konnte wieder zurück in den Westen und mußte mich meinen Lebtag nie verbiegen oder verstellen. Die meisten meiner DDR-Erinnerungen sind zudem eher positiv – Ausflüge, fröhliche Runden auf dem Gartengrundstück und das sonst eher ungewohnte Gefühl, recht viel Geld ausgeben zu müssen, denn die durch den Zwangsaustausch erhaltenen 100 Ostmark hielten lange vor. Kinderbücher habe ich mir en masse gekauft und so wuchs ich einerseits zwar mit Enid Blyton auf, andererseits aber mit Alfons Zitterbacke und Ottokar, sowie zahlreichen anderen DDR-Charakteren. Mir war beim Lesen schon bewußt, daß diese Kinderbücher eine sehr idyllische DDR-Welt darstellten, die nicht der Wirklichkeit entsprach, und über Ottokars Gedichtzeile „Und wenn’s die DDR nicht gäb‘, so hätt‘ ich sie erfunden“ habe ich damals schon den Kopf geschüttelt.
Honecker, irgendwie eine lächerliche Figur, die Thüringer Verwandten haben mir vorgemacht, wie verschluckend-nuschelnd er „Deutsche Demokratische Republik“ sagte. DDR-Witze gab es reichlich und als Kind merkte man eben nicht, was alles dahintersteckte. Den Thüringer Verwandten ging es gut, die Versorgungslage schien gar nicht übel (das Gartengrundstück lieferte reichlich Dinge, die es sicher in den Läden so nicht gegeben hat). Das waren also meine „DDR light“-Erfahrungen. Und wenn man heute manchen Leuten zuhört oder Fernsehsendungen schaut, dann könnte man den Eindruck bekommen, diese DDR light war doch eigentlich ohnehin alles, was es zu erleben gab. Dieser etwas betulich-spießige Staat, in dem man sich schon irgendwie einrichten konnte. Alles halb so schlimm. Ostalgie nennt sich das. In DDR-Museen finden sich Sandmännchen & Pittiplatsch, Konservendosen und andere VEB-Verpackungen, Möbelstücke, mal eine echte Schwalbe, und dann, in einem kleinen Seitenraum ein paar dezente Verweise auf Uniformen und Staatsratsvorsitzende. Sicher gibt es auch viele Gedenkstätten und Museen, die über die dunklen Seiten der DDR aufklären, aber im Mainstream finden sich häufiger Schnatterinchen und das gute Spee.
Ich war zu DDR-Zeiten zu jung, um viele Zusammenhänge zu verstehen, auch wenn mich die DDR schon immer interessiert hat. Ich habe mich später bewußt für die Universität Jena entschieden, bin bewußt nach Thüringen gezogen und habe auch angefangen, mit Bekannten und Verwandten ab und an ein wenig über die DDR-Zeit zu reden. Die wirklich wichtigen Fragen im Familienkreis habe ich leider nicht gestellt. Ich wußte von Kindheit an, daß der Ehemann meiner Großtante nach dem Krieg unschuldig im sogenannten „Speziallager“ Buchenwald einsaß, aber in dem Alter konnte ich mit der Information wenig anfangen. Als ich genauer wissen wollte, was da eigentlich passiert war und warum meine Großtante und ihr Mann anschließend in der DDR geblieben waren, lebte meine Großtante nicht mehr, und ich weiß auch gar nicht, ob ich sie so etwas hätte fragen können. Alle Geschwister meiner Großtante sind irgendwann in den Westen gegangen, sie und ihre Familie sind dort geblieben. Warum, nachdem gerade sie doch erlebt hatten, wozu der Staat fähig ist?
Bekannte berichteten eher Harmloses, nach dem Motto „Sicher war nicht alles gut, aber man mußte sich um nichts Sorgen machen, hatte Arbeit, der Staat kümmerte sich“. Eine der interessantesten Unterhaltungen hatte ich mit einem älteren Herrn, der am Anfang durchaus überzeugt von dem System war und heute viele seiner eigenen Ansichten und Taten in Frage stellt. Ansonsten herrschte die Verharmlosung vor. Und vielleicht war diese durchaus authentisch – wer mitmachte, konnte sich einrichten, konnte recht gut leben in dieser DDR. Die Leute, die sich nicht einrichten konnten, mit denen kam ich bislang nicht ins Gespräch. Ich las dafür. Las Kempowski, las „Der Turm“, las „89/90“, las Sachbücher, las, las, las. Und verstehe nach jedem Buch auf’s Neue daß ich die DDR nicht verstehen kann, wie niemand, der sie nicht erlebt hat. Aber informieren kann ich mich und versuchen, zu verstehen.
Plötzlich fühlten sich viele Leute ermutigt, mir ihre Geschichte, ihr Thema zu erzählen. Häufig waren sie einfach froh, in diesem Berg von Aufarbeitungsliteratur einen Platz gefunden zu haben, an dem sie vorkommen. (Rainer Schneider)
Deshalb war ich sehr interessiert an der Reihe „Lebenswege“, die ich zufällig bei Lovelybooks entdeckte, die uns das Leben von Menschen aus der damaligen DDR nahebringt. Es steckt wesentlich mehr dahinter als eine Romanserie: „Lebenswege“ ist ein Projekt, das auf wahren Lebensgeschichten beruht und über eine DDR informiert, die den meisten von uns wohl unbekannt sein dürfte. Auf der Website des Projektes findet sich folgende Erklärung: „Fast dreißig Jahre sind seit dem Ende der DDR vergangen. Vieles ist in dieser Zeit über sie geschrieben worden. Meist geht es dabei um das MfS und die Mauer. Sucht man aber nach Geschichten, die das Leben im real existierenden Sozialismus beschreiben, die erzählen, wie es sich anfühlte, dort in den Achtzigerjahren erwachsen zu werden, ist es, als stünde man in einem Museum mit kahlen Wänden. Die „Lebenswege“ lassen die Bilder jener Tage wieder sichtbar werden.“
Jeder Band widmet sich einem anderen Aspekt, einem anderen Schicksal der DDR. Auf der Website finden sich Beschreibungen jedes Bandes. Die Kurzbeschreibungen der Einzelbände sind hier entnommen:
- Ausgrenzung jener, die sich dem DDR-typischen Militarismus verweigerten
- die Schwierigkeiten des sozialen Aufstiegs in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen
- das Prinzip der Talentförderung in der DDR und wie Begabungen vermeintlich höheren Zielen geopfert wurden
- die Umbrüche in den Neunzigerjahren
- wie die Eliten der ehemaligen DDR „die Reihen fest geschlossen“ halten, wenn es darum geht, sich selbst reinzuwaschen
- die Gewissenskonflikte zwischen Anpassung und Opposition in Familie und Gesellschaft – und damit auch die zwiespältige Rolle, die die evangelische Kirche vor, während und nach der Wende gespielt hat
Dieser im letzten Punkt erwähnte Band, der sechste der Reihe, heißt „Lydia.Vergebung“ und war im Rahmen einer Lovelybooks-Leserunde der erste Band, den ich aus der Serie las. Ich war von den Geschehnissen von Anfang an sehr berührt und fragte den Autor: „Wie nah sind die in den Büchern geschilderten Lebenswege an tatsächliche Zeitzeugenerfahrungen angelehnt?“
Die Antwort war: „Sehr nah. Als ich mich den Lebenswegen anfing, sollte es eigentlich nur ein einziges Buch werden. Bis ich merkte, dass ich Anna damit zu viel Gepäck auf den erzählerischen Weg mitgebe. Dann habe ich das alles thematisch aufgegliedert und das hat die Büchse der Pandora geöffnet. Plötzlich fühlten sich viele Leute ermutigt, mir ihre Geschichte, ihr Thema zu erzählen. Häufig waren sie einfach froh, in diesem Berg von Aufarbeitungsliteratur einen Platz gefunden zu haben, an dem sie vorkommen. Lydia ist so ein Fall. Natürlich sind die Figuren so weit verfremdet, dass man die tatsächlichen Personen nicht mehr erkennen kann, sind die Schauplätze, Namen, etc. verändert. Nach dem ersten Kontakt mit einem Thema und einem konkreten Schicksal recherchiere ich die Hintergründe, warum und ob überhaupt sich bestimmte Dinge ereignet haben können. In der Regel (und erst hier entscheidet sich dann, ob es eine „Lebenswege“-Geschichte wird) stoße ich auf weitere oder ähnliche Biografien. Sollte sich eine Bio als relevant genug erweisen, wird jetzt Literatur aus der ganzen Angelegenheit. Aus der Vielzahl realer Vorlagen entstehen Romanfiguren, die sich jeweils aus mehreren real existierenden oder existiert habenden Personen zusammensetzen. Die Lebenswege sind also sehr nah am historischen Geschehen, aber weit genug entfernt, um ihre Vorbilder bloßzustellen oder preiszugeben.“
Wie man sieht, sind die „Lebenswege“-Romane mehr als nur Romane. Sie sind ein wichtiges, übersehenes Stück DDR-Geschichte und ich kann Rainer Schneider für sein Projekt nur meine Hochachtung aussprechen.
„Lydia“ widmet sich nun der Geschichte einer Frau, die vom System DDR, aber auch von der eigenen Familie systematisch zerstört wurde. Hier stellt sich bereits die Frage, inwieweit die privaten Menschen der DDR mit dem System DDR identisch sind, denn die Brutalität der DDR gegen Menschen geschah nicht nur durch die Mauerschützen oder die Stasi, sondern oft genug auf weit weniger offiziellen Wegen. Die doch zu bequeme Abwälzung allen DDR-Unrechtes auf die Stasi verdeckt vieles, was geschehen ist und man merkt in „Lydia“, wie wichtig es dem Autor ist, dies deutlich zu machen und jenen eine Stimme zu geben, die unterhalb des öffentlich Nachweisbaren zerstört wurden.
Wir befinden uns im Jahre 2008, irgendwo in der Provinz in der Nähe von Leipzig und tauchen als Leser ein in eine grausige Familie. Fünf Geschwister nehmen den bevorstehenden Tod der über 80jährigen Mutter zum Anlaß, die zwei im Westen lebenden Geschwister Lydia und Mario einzuladen. Offiziell, damit diese Abschied von der sterbenden Mutter nehmen können. Inoffiziell aber tun sich Abgründe auf, gehen wir Schritt für Schritt mit bis zur Aufdeckung eines erschreckenden Familiengeheimnisses, befinden uns in einer unheimlichen Atmosphäre von Angst, Mißtrauen und Haß. In Rückblicken und aus Unterhaltungen wird dem Leser gezeigt, wie perfide in der DDR Menschen zerstört wurden, die nicht ins Bild des allseits glücklichen sozialistischen Bürgers paßten, die es wagten, Dinge zu hinterfragen, die sich der allseits herrschenden Doppelmoral nicht unterwerfen wollten. Auch die Rolle der Evangelischen Kirche in der DDR – ebenso wie in der Bundesrepublik – wird hier ein großes Stück weit entmystifiziert. Einiges war mir rein theoretisch bereits bekannt, bekam aber durch diese persönliche Perspektive – die, wie gesagt, auf einem tatsächlichen Schicksal beruht – noch eine größere Eindringlichkeit. Andere Fakten waren mir völlig neu und ich habe immer wieder innegehalten, um weitere Informationen im Internet zu suchen.
Lydia und Mario sind es hier also, an denen wir erleben, wie schnell man in der DDR ins Abseits gelangen konnte und wie zerstörerisch sich dies auswirkte (bis über die Wende hinaus!). Lydia ist von Depressionen und Schuldgefühlen schon fast vernichtet. Ihre seelischen Schmerzen strömen dem Leser von den Seiten entgegen. Es war teilweise schwer, über die Intensivität ihres Leides zu lesen, die Mitleidlosigkeit ihres Umfeldes, welches ihr geringes Selbstwertgefühl noch nach Kräften ausnutzt. Ebenfalls schmerzhaft die Qual, die ihr Bruder Mario angesichts seiner Hilflosigkeit empfindet – ein Gefühl, das vielen Angehörigen Depressionskranker nur zu vertraut sein dürfte. Dieser Gefühlsaufruhr wird uns vom Autoren in einem sachlichen Schreibstil berichtet, was das Geschriebene noch eindrucksvoller macht und es nicht durch Pathos überdeckt. Der Schreibstil war für mich eine große Freude. Er ist leicht und angenehm zu lesen, drängt sich nicht in den Vordergrund, kann aber durch viele wundervolle Formulierungen das Gesagte bildhaft unterstreichen. „Verinselt“ sind die Charaktere, die keinen Zugang mehr zueinander finden können. „Man braucht keine Fäuste, um jemanden zu verletzen“ (aus dem Gedächtnis wiedergegeben und deshalb vielleicht nicht wortgenau zitiert) stellt der Autor lakonisch und sehr treffend fest. Lydia, die nach innen leidet, Mario, der vor Zorn ständig zu beben scheint, auch das ist gut beschrieben: „Das Gesicht an seine Jacke gepresst, flüsterte sie so leise, dass Mario sie kaum verstehen konnte. Er dagegen hätte schreien können. Was in ihm vorging, was er empfand, hätte er in einem Flüstern nicht unterbringen können.“
Die Motive, Gedanken, Entscheidungen, die teilweise zu Anfang unglaublich erscheinen, werden plausibel erklärt und ich habe oft gemerkt, wie wenig ich über die DDR eigentlich weiß, wie wenig ich das Leben in einem solchen System erfassen konnte. Auch die Motive der systemtreuen Geschwister erfahren wir. Diese haben sich alle der DDR angepaßt, ganz den väterlichen Erwartungen entsprechend. Die Anpassung geschah aus unterschiedlichen Motiven, eine der Schwestern hat auch die dunklere Seite der DDR kennengelernt (was sie nicht davon abhielt, später zur willigen Systemgehilfin zu werden), einer der Brüder hat sich aus Opportunismus angepaßt. Manche sind froh, daß es vorbei ist, andere trauern der Zeit der unterschwelligen Machtausübung nach. Man kann es nicht gutheißen, was sie tun, wie sie denken, aber man kann es irgendwie aus ihrer Warte her verstehen.
Ich habe auf etwa 230 Seiten wesentlich mehr über das Leben in der DDR, über die Fortbestehung manch alter Seilschaften, über beängstigende Methoden und noch vieles andere gelernt, als ich erwartet hatte. An manchen Stellen hätte ich mehr Hintergrundinformationen erfreulich gefunden, aber auch so war die Informationsfülle bemerkenswert. Lydias Schicksal – stellvertretend für das vieler anderer Menschen, die zerstört wurden – berührt tief, regt zum Nachdenken an. Der Schreibstil war eine wahre Freude und die anderen Bücher der „Lebenswege“ werden sehr rasch ihren Weg in mein Bücherregal finden.
Ein Kommentar zu „Ein Blick auf die DDR und eine Buchempfehlung: Lydia. Vergebung.“