In einem früheren Blogartikel habe ich schon einige Hintergründe zu der hervorragenden Lebenswege-Serie Rainer Schneiders gegeben. Ich habe seitdem alle Bücher der Serie gelesen (und hoffe, daß Band 7 dann auch bald erscheint, Rainer Schneider arbeitet schon engagiert daran). Jeder Band hat seine ganz eigene Stimme, behandelt einen anderen Aspekt des unangepaßten Lebens in der DDR. Ich habe aus diesen Büchern unglaublich viel gelernt, habe den ausgezeichneten Schreibstil genossen und das Wissen, daß die Geschichten auf wahren Schicksalen beruhen (weitere Informationen gibt es auf Rainer Schneiders Website), hat den Bücher eine besondere Intensität gegeben. Meine und viele andere Rezension zu den Büchern können ua bei Lovelybooks gelesen werden.
In einem Gespräch mit Rainer Schneider erfuhr ich, daß er an den Büchern jahrelang arbeitet, da er sie nach dem Schreiben der Reihe nach gründlich überarbeitet hat. So lag es nah, ihn um einen Einblick in diesen Aspekt des Autorenlebens zu bitten. Auch zur Lebenswege-Serie gibt es in seinem Artikel Interessantes zu lesen.
Heike hat mich gebeten, ein paar Gedanken zum Thema Text-Überarbeitungen aufzuschreiben, was ich natürlich gern tun werde. Zunächst jedoch eine Vorbemerkung: Nachfolgend schreibe ich über das Handwerkszeug, das ich mir im Lauf der Jahre zusammengesucht habe. Das heißt, die Sachen funktionieren für mich, nicht zwingend auch für den Rest der Welt. Es gibt für den Schreibprozess keine letztgültigen Rezepte. Aber man kann versuchen, das wunderbare kreative Chaos ein wenig zu ordnen. Wer das ähnlich sieht, wird in den nachfolgenden Zeilen sicherlich etwas Hilfreiches für das eigene Schreiben finden. Wenn nicht: Die nächsten Schreibexperten warten nur ein paar Mausklicks weit entfernt.
Überarbeitungen also. Vielleicht das Wichtigste beim Schreiben überhaupt. Warum? Niemand schreibt auf Anhieb den perfekten Satz. Schon gar nicht den perfekten Roman (den gibt’s sowieso nicht, aber versuchen kann man es ja). Als ich anfing zu schreiben, war ich leider vom Gegenteil überzeugt. Ich wollte, dass alles sofort passt und hielt eine missglückte Formulierung für den Untergang der Welt. Wenn man noch dazu so ungeschickt ist, die erste Fassung eines Textes von Wildfremden lesen zu lassen, kann man sich auf einige sehr schmerzhafte Erfahrungen gefasst machen.
Mit den Jahren schärfte sich mein Blick für das Geschriebene und es reifte die Einsicht, dass Schreiben schlicht Handwerk ist. So unromantisch.
Geht es ans Überarbeiten, setze ich gedanklich noch einmal ganz am Anfang an. Idealerweise sind seit dem ersten geschriebenen Satz drei bis vier Monate vergangen, 300 – 400 Seiten umfasst das Word-Dokument, einige magische Momente sind geschehen (die Figuren sind „lebendig“ geworden, was immer ein sicheres Indiz dafür ist, auf dem richtigen Weg zu sein) und man ist restlos von der eigenen Genialität überzeugt. Aber ist das noch die Geschichte, die ich hatte schreiben wollen? Habe ich mal wieder versucht, klüger als meine Figuren zu sein? Wollte ich jemanden mit meiner Sachkenntnis beeindrucken? Schleunigst zurück auf Anfang also.
Und dort steht bei mir immer das Thema, also worüber die Geschichte etwas erzählen soll. Weil mein Hauptprojekt nun einmal die „Lebenswege“ sind, die sich mit dem Leben in der ehemaligen DDR beschäftigen, bekomme ich relativ häufig Berichte über Flucht und Ausreise präsentiert, aber auch Anekdoten über Ersatzteilbeschaffungen, pfiffige Basteleien und so weiter. Natürlich immer mit dem Zusatz versehen: „Das müssen Sie mal aufschreiben!“ Und sicher, da sind bedrückende Dinge geschehen, heldenhafte, unglaubliche – und sie sind es allesamt Wert, bewahrt und festgehalten zu werden.
Aber eignen sie sich auch für ein literarisches Projekt? In aller Regel nicht. Ich schreibe schließlich Romane und keine Sachbücher oder Dokumentationen. Damit etwas Literatur werden kann, muss das Erlebnis mit einem Thema verbunden sein: In „Karin. Glück ohne Ende.“ geht es um soziale Mobilität. Der ganze Roman prüft, wie es in der DDR damit bestellt war: Während Karin den sozialen Aufstieg sucht, geht es ihrem Freund Martin darum, den sozialen Abstieg zu vermeiden. Deshalb entscheiden sich die beiden zur Flucht. Diese Beweggründe herauszufinden, sie zu recherchieren, zu verdichten, sie gesellschaftlich einzuordnen – das ist meine Aufgabe als Autor. Es sammelt sich also eine ganze Menge Material an, bevor ich mit dem Schreiben überhaupt beginne. So wichtig diese Kenntnisse sind, so wohnt ihnen leider auch die Gefahr inne, dass ich meine Figuren mit Fakten erschlage. Oder dass sie sich auf Wege begeben, die nichts mit der Geschichte zu tun haben.
Beim Überarbeiten entsinne ich mich deshalb all der wichtigen Fragen wieder, die ich beim Erstellen der Outline hoffentlich beantwortet habe: Wer ist meine Hauptfigur? Was will sie? Wer sind die Nebenfiguren und was wollen sie? Stimmen die Strukturen meiner Geschichte? Sind meine Turning Points richtig gesetzt? Erzähle ich Dinge doppelt und dreifach? Stimmen meine Anschlüsse und Übergänge? Habe ich das Brandenburger Tor dummerweise nach Rostock verlegt? Hat die rote Jacke, die meine Heldin trägt, zwischendurch die Farbe gewechselt? Auch Rechtschreibung und Grammatik kommen auf den Prüfstand.
Vor allem aber ist jetzt die Zeit für den sprachlichen Feinschliff gekommen. Ja, erst jetzt entstehen die Sätze für die Ewigkeit. Bis hierher war alles Arbeit an der Struktur des Romanes; wollte ich wissen, ob meine Figuren die Geschichte bis zum Schluss tragen. Die erste Fassung dient vor allem dazu, zu sehen, ob meine Story funktioniert. Alles, was darüber hinausgeht, bremst nur unnötig den Schreibfluss und macht das Überarbeiten umso schwerer. Kill your darlings, heißt es nicht umsonst. Sind nur wenige Lieblinge vorhanden, lässt sich die Delete-Taste wesentlich leichter drücken.
Bei den ersten Überarbeitungsgängen streiche ich jeweils etwa 10% des Textes, bis ich die ursprünglich 300-400 Seiten auf meine Wunschlänge von rund 250-270 Seiten reduziert habe. Ich vergleiche diesen Prozess gern damit, wie ein Bildhauer vorgeht. Aus einem Werkstück schlägt er unermüdlich immer weiter alles Störende weg, bis am Ende eine umwerfende Skulptur übrigbleibt. Denn Überarbeiten heißt nicht einfach kürzen. Es bedeutet auch, den Text zu polieren, präziser zu formulieren, pointierter.
Wie viel Zeit beansprucht das Überarbeiten? Wie weiß man, wann es genug ist? Zwei Fragen, auf die es keine richtige Antwort gibt. Als Autor kenne ich die brennende Ungeduld, das Werk der Welt zu präsentieren, endlich Lob und Anerkennung einzuheimsen. Wenn man sich jedoch von dieser Ungeduld leiten lässt, ist das der sicherste Weg, auf die Nase zu fallen. Eine Geschichte muss reifen. Man muss sie immer wieder eine Weile liegenlassen, um ihr mit frischen Gedanken noch einmal zu begegnen. Man muss sie in Frage stellen.
Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, mich zwischendurch mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen. Musik zu machen. Ins Museum zu gehen. Zu Verreisen. Nimmt man die Geschichte danach wieder in die Hand und sie elektrisiert einen, dann ist man ziemlich sicher auf der Zielgeraden. Aber wie lange das dauert, wie oft man den Text überarbeiten muss – keine Ahnung. Das beste Mittel gegen diese Unsicherheiten ist: Schreiben. Überarbeiten. So viel wie möglich. Denn Schreiben ist Handwerk. So unromantisch.