Buchempfehlung: Der letzte Tanz. Der Untergang der russischen Aristokratie.

Wie ich bereits in einem früheren Artikel erwähnt habe, führt mich meine Recherche oft zu Themen, für die ich mich außerhalb der für das Schreiben benötigten Informationen interessiere. Eines dieser Themen ist der Adel in Russland während und nach der Revolution. Als Teenager hatte ich The House by the Dvina gelesen, einen bewegenden Bericht aus erster Hand über eine Kindheit in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ich wusste damals wenig über die russische Geschichte und der Epilog des Buches schockierte mich – so viele der Familienmitglieder (keine Adligen, sondern wohlhabende bürgerliche Russen) kamen in den Jahren nach der Revolution ums Leben, besonders während Stalins Terrorregime. Naiv wie ich damals war, konnte ich nicht begreifen, warum eine Regierung Leute verhaftete und tötete, die absolut nichts falsch gemacht hatten. Das Buch weckte mein Interesse an Russland und über die Jahre habe ich mehr über die lange und faszinierende Geschichte dieses Landes gelesen. Als ich anfing, die Allender-Trilogie zu planen, wollte ich etwas von der russischen Magie in der Geschichte und so spielen einige Szenen in St. Petersburg.

Ich recherchierte gründlich die für die Trilogie relevante russische Geschichte und Lebensart. Die Beteiligung Russlands an der Allender-Trilogie endet mit der Revolution, aber ich wurde neugierig. Was war mit dem russischen Adel geschehen – viele wurden getötet, viele entkamen. Sind manche geblieben und wenn ja, haben sie überlebt? Ich wusste es nicht – es gibt nicht viel Material über russische Adlige nach der Revolution. Daher habe ich mich gefreut, das Buch „Der letzte Tanz. Der Untergang der russischen Aristokratie.“ zu finden, das ich in der englischen Version las.

„Der letzte Tanz“, auf Englisch: „Former People. The Destruction of the Russian Aristocracy“ (ein sehr viel eindrücklicherer und passender Titel), zeichnet ein lebendiges Bild des russischen Adels zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Revolution und der Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Autor Douglas Smith folgt den Schicksalen der Mitglieder zweier einflussreicher russischer Familien – der Grafen Scheremetew und der Fürsten Golizyn. Er greift dabei auf allgemeine Informationen über die damaligen Ereignisse in Russland zurück und schafft so eine Mischung aus persönlichen Geschichten und historischen Hintergrundinformationen.

Das Buch beginnt mit einem Überblick über die Situation in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Faktoren, die letztendlich zur Revolution führten. Es stellt auch beide Familien und ihre illustre Geschichte vor. Dann fährt der Autor mit der Chronik der Revolution und den Jahren bis 1945 fort. Eine Vielzahl von Briefen und Zeitschriftenauszügen sowie Informationen aus Interviews werden verwendet, um die Scheremetews und die Golizyns zum Leben zu erwecken.

Ich muss zugeben, daß ich nur ein oder zwei Kapitel auf einmal lesen konnte, obwohl ich Bücher normalerweise verschlinge. Der Grund ist nicht, daß ich das Buch nicht mochte, sondern daß die erzählte Geschichte brutal und oft herzzerreißend ist. Douglas Smith hat einen fesselnden Schreibstil, dies ist kein trockenes, wissenschaftliches Schreiben – er schafft es meistens, eine lebhafte Geschichte zu schildern. Manchmal ist er zu sehr mit historischen Details und Charakteren beschäftigt und dies führt zu einigen Passagen mit Hintergrundinformationen, die ein wenig mühsam zu lesen sind. Dennoch ist man die meiste Zeit mitten in den grausamen Ereignissen. Ich konnte jedes Mal nur eine begrenzte Menge davon ertragen. Das ist eine Stärke des Buches, es hat mich sicherlich nicht kalt gelassen. Hinzu kommen persönliche Schicksale – wenn es einen Namen und eine Hintergrundgeschichte gibt, ist man noch mehr involviert. Die meisten Menschen im Buch treffen auf ein brutales und vorzeitiges Ende. Zwanzigjährige kommen in Arbeitslagern um, eine junge Frau wird wochenlang immer wieder brutal geschlagen, um sie zu einem Geständnis zu zwingen – obwohl sie die Anklage nicht einmal kennt (ein Motiv, das sich während der russischen Besatzung Ostdeutschlands auch häufig findet und welches ich in „Des Lebens labyrinthisch irrer Lauf“ verwendete). Junge Männer werden verhaftet, erschossen – nicht wegen eines Verbrechens, sondern wegen ihrer Herkunft, Mütter werden nicht einmal über den Tod ihrer Kinder informiert.

Indem Douglas Smith über zwei so große Familien berichtet, kann er eine Vielzahl von Schicksalen präsentieren – einige werden in den frühen Tagen der Revolution getötet, andere verlassen Russland, manche schaffen es tatsächlich, irgendwie im Land zu überleben, manche sterben während des großen Terrors. Man erfährt viel über die zahlreichen verschiedenen Methoden, mit denen das sowjetische Regime die herrschenden Klassen verfolgte – es hinderte sie daran, Arbeit zu finden, ermutigte Gewalt gegen sie, schickte sie ins Exil, verhaftete, folterte und tötete sie. Das Buch zeigt auch, wie willkürlich Leben genommen und gerettet wurde. Die Informationen über so viele verschiedene Schicksale ist daher eine der Stärken des Buches. Leider ist es auch die größte Schwäche. Zu Beginn des Buches gibt es eine Liste von Hauptfiguren. Sie ist 4 1/2 Seiten lang. Es gibt zu viele Leute, und sie werden nur flüchtig in den beiden Kapiteln über die zwei Familien eingeführt. Die Hintergrundinformationen zu den Familienmitgliedern sind verwirrend zu lesen – es gibt einfach zu viele Informationen, die auf eine zu knappe Art präsentiert werden. Ich persönlich hätte einen Anhang mit einer kurzen Vorrevolution-Biographie der Hauptcharaktere bevorzugt.

Während das Buch einem chronologischen Faden folgt, erscheinen Familienmitglieder hier und da, und die meiste Zeit konnte ich mich nicht an ihren Hintergrund erinnern und was mit ihnen vorher passiert ist. Es gab nur wenige, die ich nach und nach erkannte, besonders gegen Ende des Buches, als weniger Leute beteiligt waren. Diese Art zu schreiben machte es mir schwer, eine Verbindung zu den einzelnen Menschen aufzubauen. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Schicksal kleinerer Gruppen von Anfang bis Ende zu behandeln. Andererseits hat der chronologische Ansatz den Vorteil, den historischen Hintergrund systematischer zu gestalten. Dennoch sind die ersten Kapitel schwer zu verstehen.

Alles in allem ist „Der letzte Tanz“ ein Buch, das ich sehr informativ fand, eines, das dieses bisher vernachlässigte Thema gut abdeckt und ihm eine sehr persönliche Note gibt. Ich war oft berührt von der Widerstandsfähigkeit der Familienmitglieder, ihrer Unterstützung füreinander und von Dritten. Es schockierte mich zu lesen, wie gnadenlos ihr eigenes Land versuchte, sie zu zerstören und wie viel Grausamkeit Russland als Ganzes durchmachen musste. Trotz der wenigen Schwächen, die ich erwähnt habe, ist dies eine lohnende und empfehlenswerte Lektüre.

 

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