„Das ist nicht mein Kind!“ – Vaterschaftsklagen im 19. Jahrhundert

Im Rahmen einer Leserunde zu „Ferne Wolken“ kam aufgrund eines Handlungsstranges die Frage auf, ob ein Mann im 19. Jahrhundert erfolgreich dagegen vorgehen konnte, von einer schwangeren Frau als Vater ihres zukünftigen Kindes benannt zu werden. Oder weiter gefasst: wie ließ sich eine Vaterschaft / eine nicht bestehende Vaterschaft zu jener Zeit beweisen, welche Argumentation war vor Gericht erfolgreich?

Da diese Frage im Buch nicht relevant ist, hatte ich dazu kein Recherchewissen, aber meine Neugier sowohl als Autorin, wie auch als Juristin und geschichtlich interessierter Mensch war geweckt. Und so tat ich, was ich schon zu Studienzeiten so oft getan habe: ich wälzte mich durch alte juristische Artikel, Gesetzestexte und Urteile.

Eheannullierung

Im Zusammenhang mit dieser Frage wurde auch viel über das Konzept der Eheannullierung an sich geschrieben, denn Täuschung über die Vaterschaft war einer der Gründe, aus denen um eine Annullierung einer Ehe nachgesucht wurde. Eine Annullierung hatte im 19. Jahrhundert aus mehreren Gründen eine weitaus größere Bedeutung als heutzutage, was daran lag, dass es die Möglichkeit einer Scheidung in manchen Ländern gar nicht gab und eine Scheidung auch dort, wo es sie prinzipiell gab, nur schwer zu erlangen war. Ehen sollten nicht auflösbar sein. Punktum. 1888 erklärte der Supreme Court der USA in dem Urteil Maynard vs. Hill, daß es natürlich Gründe gäbe, aus denen eine Fortführung der Ehe nicht zumutbar wäre und diese aufgelöst werden könnte. Recht farbig werden diese beschrieben: „such as the contracting by one of the parties of an incurable disease like leprosy, or confirmed insanity, or hopeless idiocy, or a conviction of a felony“ (= eine unheilbare Krankheit wie Lepra oder bestätigter Irrsinn oder hoffnungslose Idiotie, oder das Begehen eines Verbrechens). Aber im Allgemeinen galt: „Other contracts may be modified, restricted, or enlarged, or entirely released upon the consent of the parties. Not so with marriage. The relation once formed, the law steps in and holds the parties to various obligations and liabilities. It is an institution, in the maintenance of which in its purity the public is deeply interested, for it is the foundation of the family and of society, without which there would be neither civilization nor progress.“ (= Andere Verträge können mit Zustimmung der Parteien geändert, eingeschränkt oder erweitert oder vollständig annulliert werden. Nicht so bei der Ehe. Sobald die Beziehung hergestellt ist, greift das Gesetz ein und bindet die Parteien an verschiedene Verpflichtungen und Verbindlichkeiten. Es ist eine Institution, an deren Aufrechterhaltung in Reinheit die Öffentlichkeit sehr interessiert ist, denn sie ist das Fundament der Familie und der Gesellschaft, ohne die es weder Zivilisation noch Fortschritt geben würde.)

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Das liegt an einem ebenfalls von heute grundsätzlich anderen Verständnis der Ehe an sich. Die Ehe war eine wichtige Versorgungsgemeinschaft, für Frauen oft die einzige Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu sichern. So war es natürlich auch im Interesse des Staates, Frauen und Kindern die Versorgungsgrundlage nicht zu entziehen. Aufgrund dieser Schwierigkeiten, sich scheiden zu lassen, versuchten Paare häufig, stattdessen eine Annullierung zu bekommen, aber natürlich waren auch hier die Gerichte sehr zurückhaltend, um keine Hintertür zu öffnen.

Uneheliche Kinder

Auch bei unehelichen Kindern lag dem Staat daran, den Vater festzustellen und diesen zu Unterhaltszahlungen heranzuziehen, damit Mutter und Kind versorgt waren. Unterhaltsklagen gab es zuhauf, was auch oft daran lag, daß eine Eheschließung aus finanziellen oder anderen Gründen nicht so schnell möglich war und manche Paare erst einmal außereheliche Verhältnisse aufnahmen.

Vaterschaftsklagen

Ob nun wegen eines nicht eingelösten Eheversprechens, einer Annullierung, eines außerehelichen Verhältnisses oder aus anderen Gründen: es gab auch in früheren Jahrhunderten Klagen zur Feststellung der Vaterschaft, vorwiegend, um den Vater dazu zu bringen, für sein Kind Unterhalt zu zahlen. Und das führt zur Eingangsfrage zurück:

Wie wurde die Vaterschaft festgestellt?

Per DNA-Test ist dies seit Mitte der 1980er möglich. Einen Bluttest zur Feststellung der Vaterschaft habe ich in einem Urteil aus dem Jahr 1942 gefunden, welches in diesem Artikel erwähnt wird. Bluttests konnten die Vaterschaft nicht mit der Sicherheit feststellen, die wir heute von DNA-Tests kennen, aber immerhin war es ein erster Schritt. Was uns in der Leserunde aber interessierte: wie wurde dies gehandhabt, bevor es derlei Tests gab? Bei Eheleuten galt der Ehemann automatisch als Vater. Dies konnte angefochten werden, was aber thematisch hier zu weit führt, ich habe mich hier auf das Thema der nicht in einer Ehe gezeugten Kinder konzentriert.

Ich habe mir Unterlagen aus mehreren Ländern (das heutige Deutschland, die USA, Australien und Großbritannien) angesehen. Die Kriterien waren überall ähnlich. Natürlich gab es keine wissenschaftlichen Beweise, also ging man nach indirekten Beweisen. Die Wahrscheinlichkeit reichte aus. Die Master Thesis „Proof of Paternity : The History“ von Susan Vipont Hartshorne zitiert auf Seite 14 aus einem Gerichtsurteil die Definition, daß die Beweise es „more probably than not“ (mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich) erscheinen lassen müssen, daß der Beschuldigte der Vater ist.

Dazu wurde in manchen Fällen auch eine Ähnlichkeit zwischen dem (vermutlichen) 7a10291rVater und dem Kind herangezogen, das wichtigste Indiz für diese Wahrscheinlichkeit war aber der Zeitpunkt, zu dem Geschlechtsverkehr stattfand. Wenn erwiesen war, dass der Beschuldigte in der Zeit der Empfängnis Verkehr mit der Mutter hatte, dann war es durchaus nachvollziehbar, daß dieser als Vater des Kindes angesehen werden konnte. In „Die Entstehung des Unehelichenrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch“ von Steffen Baumgarten wird dies wie folgt formuliert: „Es sei zumindest ein indirekter Beweis möglich, und zwar insofern, als beweisbar ist, ob der als Vater in Anspruch Genommene in der Empfängniszeit Geschlechtsverkehr mit der unehelichen Mutter gehabt und innerhalb dieser Frist kein anderer mit der Mutter den Beischlaf vollzogen hat; hinzu kämen als Indizien äußere Umstände, z.B. ein Verlöbnis oder dauerndes eheliches Zusammenleben sowie das Zeugnis der Mutter.“ (S. 155)

Das Handbuch des Schleswig-Holsteinischen Privatrechts, Band vier formuliert: „… die (…) Alimentationspflicht des unehelichen Vaters wird diesem jedenfalls nur alsdann obliegen, wenn die Vaterschaft in rechtliche Gewißheit gesetzt worden ist. Die Verpflichtung fällt mithin weg, wenn
a) der Beischlaf nicht erwiesen wird,
b) wenn der Zeitpunct eines erwiesenen Beischlafs mit Rücksicht auf die Zeit, in welcher das Kind zur Welt gekommen ist, nach den geltenden Grundsätzen eine rechtliche Präsumtion der Vaterschaft nicht begründet…“
und nennt als Zeitraum: „Das Kind darf weder vor dem Anfange des siebenten Monats, noch nach vollendetem zehnten Monate nach der Beiwohnung geboren werden.“ Manche Urteile aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert nennen einen Zeit von 208 – 220 Tagen, im Allgemeinen Preußischen Landrecht, dem 1794 erlassenen Gesetzeswerk für Preußen, findet sich im Zweiten Teil, Elften Abschnitt, § 1089 der Zeitrahmen:  „wenn die Niederkunft innerhalb des Zweyhundert und zehnten, und Zweyhundert fünf und achtzigsten Tages, nach dem Beyschlafe erfolgt ist.“

„Proof of Paternity“ (S. 34 ff) listet zahlreiche Gerichtsurteile auf, in denen über die Empfängniszeit diskutiert wurde und mögliche Ausnahmen für eine längere oder kürzere Schwangerschaft anerkannt oder nicht anerkannt wurden. Der längste dort genannte vom Gericht akzeptierte Zeitraum sind immerhin 349 Tage (!), der kürzeste 174 Tage.

Dagegen konnte der Beschuldigte vorbringen, daß er nicht der Einzige war, der zu dieser Zeit mit der Mutter Geschlechtsverkehr hatte (exceptio plurium concumbentium – Einrede des Mehrverkehrs während der Empfängniszeit) oder auch, daß die Mutter generell „herumschlief“ (exceptio plurium generalis – was in einem juristischen Überblick aus dem frühen 19. Jahrhundert definiert wird als „wenn die Mutter notorisch eine liederliche Weibperson ist“).
Diese Einreden führten übrigens nicht unbedingt zu einer Befreiung von der Unterhaltspflicht, sondern oft zu einer Verteilung des Gesamtbetrages auf alle möglichen Väter.

In „Proof of Paternity“ (S. 26 f.) sind zudem mehrere Beispiele angeführt, in der das Alter des potentiellen Vaters eine Rolle spielte – vorpubertäre junge Männer waren per se nicht als Vater anzusehen, wobei dafür eine Altersgrenze von manchmal 13, manchmal 14 Jahren genannt wurde.
Auch diverse Krankheiten (oder Alkohol- oder Drogenmissbrauch), die den Geschlechtsverkehr oder die Zeugung unmöglich machten, werden in Gerichtsverfahren häufig als Einrede genutzt, um die Vaterschaft zu bestreiten. Allerdings gab es auch hier häufiger Probleme, dies zu beweisen und so war es nur selten eine erfolgreiche Einrede, wenn nicht weitere Faktoren hinzukamen.

Aus Mangel an wissenschaftlichen Beweisen war bei all diesen Behauptungen und Einreden die Glaubwürdigkeit entscheidend. Wie war der allgemeine Ruf, der Lebenswandel der jeweiligen Person? Welche Beziehungen zwischen der Mutter und dem eventuellen Vater waren bekannt? Ein Verlöbnis oder eheähnliches Verhältnis sprach dafür, daß der Beschuldigte der Vater war. Ein „liederlicher“ Lebenswandel der Mutter gab Einreden des eventuellen Vaters mehr Gewicht. Ein Mann, der sich nach der Geburt um das Kind kümmerte, hatte größere Schwierigkeiten, wenn er später behaupten wolle, nicht der Vater zu sein. Man muß hier auch bedenken, daß die Menschen damals in kleineren, überschaubareren Gemeinschaften zusammenlebten und es sich somit auch schneller herumsprach, wer mit wem wann was tat.

Allgemeines_Landrecht

So finden sich auch in Gesetzeswerken Bestimmungen, die zur Einschätzung der Aussagen und beteiligten Personen dienen. Hier ist das Allgemeine Preußische Landrecht sehr spezifisch. Aus dem Zweiten Teil, Elften Abschnitt:

  • § 1108: „Wenn ein vorhergegangener vertrauter Umgang zwischen beyden Theilen nachgewiesen; die Klägerin sonst von unbescholtener Aufführung, der Lebenswandel des Beklagten aber so beschaffen gewesen ist, daß man sich der That zu ihm wohl versehen kann.“
  • § 1110: „Wenn der bisherige Lebenswandel beyder Theile diese Vermuthung unterstützt.“
  • § 1113: „Wenn er bis dahin einen unbescholtenen Wandel geführt, die Klägerin aber sich einer schlechten Aufführung verdächtig gemacht hat.
  • § 1114. Der Verdacht einer schlechten Aufführung (§. 1108-1113.) trifft diejenigen, die eines vorhin mit Andern gepflogenen unehelichen Beyschlafes überführt sind.
  • § 1115. Ferner diejenigen, welche unzüchtige oder der Hurerey wegen verdächtige Häuser besuchen, ohne daß ihr Beruf sie dazu veranlaßt.
  • § 1116. Desgleichen diejenigen, welche mehrmalen an einsamen Orten mit verdächtigen Personen betroffen worden.
  • § 1117. Endlich diejenigen, welche sich unanständige und freche Reden, Gebärden, oder Handlungen zur Gewohnheit werden lassen.

Dies mag sich für an heutige Beweispflichten und –möglichkeiten Gewöhnte seltsam lesen und sich nach einer raschen Verurteilung aller nicht streng moralischen Lebensweisen anhören. Wichtig ist, daß diese genannten Punkte als Hilfen bei der allgemeinen Einschätzung der Glaubwürdigkeit von Behauptungen und Einreden gedacht sind. Eine „unanständige oder freche“ Gebärde führte natürlich nicht dazu, daß dieser Person ein uneheliches Kind angehängt wurde. Wenn aber eine Partei für Unehrlichkeit bekannt war, die andere für Ehrlichkeit, dann spielte das natürlich auch eine Rolle, wenn es Aussage gegen Aussage stand. Wenn ein Paar bekanntermaßen seit langem miteinander intim war, konnte man eher davon ausgehen, daß der Mann an der Schwangerschaft der Frau beteiligt war. Die Gerichte mußten mit dem arbeiten, was sie hatten und wenn man Gerichtsurteile zu diesen Fragen liest, kann man sehen, daß sich ernstlich bemüht wurde, alle relevanten Faktoren in Betracht zu ziehen.

Zusammenfassend kann man sagen: es gab Möglichkeiten, Unterhalt von einem Mann einzuklagen und es gab auch Möglichkeiten für Männer, sich gegen unberechtigte Unterhaltsklagen zur Wehr zu setzen. Mangels wissenschaftlicher Beweise musste man sich auf Aussagen verlassen und sicher werden hier einige Urteile gefallen sein, die heutigen Nachweisen nicht standhalten könnten. Aber man kann feststellen, die Gerichte versuchten mit den ihnen damals zur Verfügung stehenden Methoden, die Situation so umfassend zu beurteilen, wie es ihnen möglich war. Hier spielten die engeren Lebensgemeinschaften, das umfassendere Wissen über den Lebenswandel und das Liebesleben anderer eine große Rolle – heute wäre das kaum noch so durchführbar, aber den Großteil der Menschheitsgeschichte über gab es nicht die wissenschaftlichen Beweise, die für uns heute so selbstverständlich sind.

 

Bilder: Wikimedia Commons, Library of Congress Public Domain

 

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