Die Influenza-Pandemie in Philadelphia, 1918
Als ich die Geschichte Philadelphias für die Allender-Trilogie genauer recherchierte, war ich überrascht darüber, wie sehr die Influenza-Pandemie in dieser Stadt gewütet hatte. Es las sich teilweise wie ein dystopischer Roman und doch war es tatsächlich geschehene Geschichte, die gar nicht so weit zurücklag.
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Als ich die Geschichte Philadelphias für die Allender-Trilogie genauer recherchierte, war ich überrascht darüber, wie sehr die Influenza-Pandemie in dieser Stadt gewütet hatte. Es las sich teilweise wie ein dystopischer Roman und doch war es tatsächlich geschehene Geschichte, die gar nicht so weit zurücklag. Darüber in „Verlorenes Gestern“, dem dritten Band der Allender-Trilogie zu schreiben, war eine sehr intensive Erfahrung.
Die Zitate sind Auszüge aus „Verlorenes Gestern“.
Die Grippe wurde von infizierten Soldaten nach Philadelphia gebracht und die ersten Warnungen vor der Krankheit wurden im September 1918 veröffentlicht. Dennoch fand am 28. September eine Liberty Loan Parade statt, die den Kauf neuer Kriegsanleihen anheizen sollte. Trotz der Infektionsgefahr wurden alle Warnungen unterdrückt, um die öffentliche Stimmung bei der Parade nicht zu beeinträchtigen. So wurde sie zu einer perfekte Verbreitungsmöglichkeit für das tödliche Virus. Ein Zitat aus John Barrys Buch „The Great Influenza“ beschreibt es treffend: „Am 28. September traten die Teilnehmer der größten Parade der Stadtgeschichte stolz auf. Die Parade erstreckte sich über mindestens zwei Meilen, zwei Meilen von Bändern, Fahnen, Pfadfindern, weiblichen Helfern, Marinesoldaten, Seeleuten und Soldaten. Mehrere hunderttausend Menschen drängten sich an der Paradestrecke und schoben sich sich gegenseitig weg, um bessere Sicht zu haben. Die Reihen hinter ihnen riefen den tapferen jungen Männern Ermutigendes über die Schultern und an den Gesichtern anderer vorbei.“
Und so dauerte es nur zwei Tage, bis die Influenza Philadelphia fest im Griff hatte. Es erkrankten so viele Menschen, dass Krankenhäuser überfüllt waren und sich weigerten, mehr Patienten aufzunehmen. Leute bettelten, bestachen, um ein Krankenhausbett zu bekommen. Aufgrund des Krieges gab es in Philadelphia kaum medizinisches Personal – die meisten Ärzte und Krankenschwestern waren in Europa.
Die sogenannte Spanische Grippe (Spanien war das erste Land, das schwer getroffen wurde) hatte im Sommer 1918 das kriegsmüde Europa verwüstet. Es war eine Mutation der bisher bekannten Grippe, ein bösartigeres und tödlicheres Virus. Die Auswirkungen waren bei jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig am verheerendsten, und es ging schnell: manchmal vergingen nur 24 bis 48 Stunden zwischen den ersten Symptomen und dem Tod, tatsächlich konnte der Zustand sich innerhalb weniger Momente von gesund zu erschreckend krank verändern. Erschreckend war es in vieler Hinsicht, denn die Symptome waren nicht alle typisch für Grippe, für Influenza. Eines der beängstigendsten Symptome war die Zyanose – die Haut verfärbte sich blau, sogar schwarz. Eine furchterregende Erinnerung an die Pest, den schwarzen Tod. Unerträgliche Schmerzen folterten an Influenza Erkrankte. Vor dem Tod bluteten die Kranken aus Ohren, Mund, Nase und sogar Augenhöhlen.
„Keine neuen Entwicklungen in Frankreich. Diese Influenza in Europa scheint London erreicht zu haben. Sie scheinen damit ziemlich überfordert.“
„Es ist nur Influenza, es kann nicht so schlimm sein“, merkte Helen an, während sie sich setzte.
„Scheint eine ernste Version von Influenza zu sein“, murmelte Alex und faltete die Zeitung zusammen.
„Aber manche Leute sagen, dass es gar keine Influenza ist, sondern etwas viel Schlimmeres. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Wenn es Influenza ist, dann sicher nicht die, die wir kennen.“
Am Morgen klagte er über Fieber und bibberte vor Schüttelfrost. Am Nachmittag brachte sein ausgehungerter Körper das wenige Essen hoch, das er am Morgen verzehrt hatte und am nächsten Morgen war sein Gesicht bläulich und seine Nase blutete.
Erneut brachte Anthony ein Mitglied seiner Familie zum Auto und fuhr zum Krankenhaus. Die Straßen waren fast leer, abgesehen von einigen Feuerwehrleuten mit Gesichtsmasken, die die Bürgersteige mit Wasser abspritzten. Als das Auto in die Straße des Krankenhauses einbog, gab es plötzlich kein Vorwärtskommen mehr. Autos und Kutschen blockierten die Straße, die Menschen weinten und heulten, drängten sich um den Krankenhauseingang.
Die Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Ausbrüche waren drastisch – mußten drastisch sein. Überall warnten Schilder vor Ansteckungsgefahren – offene Fenster, Spucken (es gab Bußgelder für Spucken und es erfolgten sogar Verhaftungen). Diejenigen, die draußen sein mussten, trugen Gesichtsmasken. Das Leben in Philadelphia war fast zum Erliegen gekommen, als die ersten Tage im Oktober das Ausmaß der Epidemie zeigten – alle öffentlichen Orte waren geschlossen, öffentliche Versammlungen verboten. Die Telefon- und Postdienste waren aufgrund des Personalmangels begrenzt, zeitweise waren nur Notrufe erlaubt und mussten kurz gehalten werden. Straßen wurden mit Wasser abgespritzt.
Philadelphia muss Mitte Oktober unheimlich gewesen sein. Die Leute wagten sich nicht nach draußen, außer es war unvermeidbar, sie mieden einander auf der Straße. Die sonst so belebte Stadt war verlassen. Eltern starben zu Hause, die plötzlich verwaisten Kinder fanden sich alleine, weinten und starben in Häusern und Wohnungen. Wenn man sie hörte, wagte es vor Angst aus Ansteckung niemand, sie herauszuholen. Tausende Menschen starben pro Woche an Influenza. Dies führte zu etwas, das in einer amerikanischen Stadt im 20. Jahrhundert kaum vorstellbar war: es gab nicht genug Särge, nicht genug Leute, um sich um die Toten zu kümmern und Gräber zu graben. Särge wurden manchmal von bewaffneten Wachen beschützt. Schließlich wurden die Toten in Decken gehüllt und nach draußen gebracht (oft mehrere Tage nach dem Tod), um von Karren aufgenommen und in Gräben begraben zu werden – eine Erinnerung an die mittelalterlichen Pesttage, qualvoll für diejenigen, die ihre Angehörigen verloren hatten. Der Geruch des Todes hing buchstäblich über der Stadt.
Am 4. Oktober meldete die Zeitung, dass weitere sechshundert Einwohner von Philadelphia an Influenza erkrankt waren und mehr als hundertdreißig Leute gestorben waren. Nur zwei Stunden später erfuhr Anthony, dass seine Großeltern unter den Toten waren. Er wurde gebeten, sie schnell aus dem Krankenhaus zu entfernen, welches mittlerweile ebenfalls völlig überfüllt war.
Der Beerdigungsunternehmer teilte ihm mit, dass Särge knapp wurden und verlangte einen lächerlich hohen Betrag für die Beerdigung. „Das mag angesichts Ihres Verlustes harsch klingen, junger Mann. Aber befolgen Sie meinen Rat: beerdigen Sie sie heute oder spätestens morgen. Danach könnte es schwierig werden, ihnen überhaupt eine Beerdigung zu verschaffen. Die Leute sterben wie die Fliegen.“
„Aber … meine Eltern sind in Kentucky. Sie brauchen Zeit, um anzureisen.“
Der Beerdigungsunternehmer schüttelte den Kopf. „Wenn Ihre Eltern in Kentucky sind, dann lassen Sie sie auch dort bleiben. Sehen Sie nicht, was hier passiert? Die Influenza rast durch die Stadt, gierig nach Opfern. Glauben Sie mir. Wenn irgendjemand weiß, wie sie gerade alle sterben, dann ich. Halten Sie Ihre Eltern von hier fern.“
„Wo sind deine Eltern?“ fragte Anthony.
Das Kind schniefte und deutete dann nach oben. Anthony rannte die Treppen hinauf, bemerkte, dass der Gestank stärker wurde. Er würgte, als er in das erste Zimmer blickte und einen bewegungslosen Körper auf dem Bett sah. Das Baby, das er von draußen hatte schreien hören, lag in einer Wiege neben dem Bett. Ein Blick auf den Körper zeigte ihm, dass es eine tote Frau war, ihr Gesicht fast schwarz, ihre Nase und ihr Mund mit getrocknetem Blut bedeckt. Der Gestank war überwältigend. Anthony presste ein Taschentuch auf seinen Mund und sah in die beiden anderen Räume. Sie waren leer. Als er in das erste Zimmer zurückkehrte, entdeckte er das mit einem schwarzen Trauerband versehene Foto eines jungen Soldaten auf dem Nachttisch.
Nach drei alptraumhaften Wochen gab es weniger Ansteckungen, weniger neue Todesfälle. Bis Ende Oktober war die Lage in Philadelphia wieder normal – soweit das möglich war. Über eine halbe Million Menschen hatten sich in der Stadt angesteckt, mehr als 16.000 waren gestorben.
Das Internet bietet einige Quellen (Englisch) über die Grippepandemie, darunter viele Primärquellen. Hier sind ein paar nützliche Links:
Ein ausführlicher Artikel (The Pennsylvania Gazette)
Ein weiterer ausführlicher Artikel (Jstor Daily)
Ich kann auch das Buch The Great Influenza: The Story of the Deadliest Pandemic in History (nur in Englisch erhältlich) empfehlen. Es liefert erstaunliche Details und Hintergrundinformationen (auch über die USA während des Ersten Weltkriegs) und ich wurde von der schrecklichen Geschichte ergriffen, die es zu erzählen hatte.