T4 – harmloser Name für vielfachen Mord

Eines der schwierigsten Themen sowohl bei der Recherche als auch beim Schreiben war jenes, welches sich hinter dem so harmlos klingenden Namen „T4“ verbirgt. Der (erst in der Nachkriegszeit verwendete) Name kommt von der Adresse jener Stelle, die die Morde an Menschen organisierte, welche vom der Nazi-Diktatur als „lebensunwert“ (das Wort alleine jagt einem Schauder über den Rücken) angesehen wurde – Tiergartenstraße 4 in Berlin.

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Wenn man ein Buch schreibt, das die Jahre 1933 – 45 umfaßt, dann ist die Recherche oft sehr bedrückend. Es sind so viele unaussprechlich furchtbare Dinge in dieser Zeit passiert, so viele unschuldige Menschen wurden Opfer der Diktatur.

Eines der schwierigsten Themen sowohl bei der Recherche als auch beim Schreiben war jenes, welches sich hinter dem so harmlos klingenden Namen „T4“ verbirgt. Der (erst in der Nachkriegszeit verwendete) Name kommt von der Adresse jener Stelle, die die Morde an Menschen organisierte, welche vom der Nazi-Diktatur als „lebensunwert“ (das Wort alleine jagt einem Schauder über den Rücken) angesehen wurde – Tiergartenstraße 4 in Berlin. Als „lebensunwert“ wurde man in der Diktatur aus vielen Gründen betrachtet, hier bezieht es sich auf jene, die psychische Krankheiten oder geistige Behinderungen hatten. Die Ermordung dieser Menschen wurde zur Nazizeit als „Euthanasie“, als „Aktion Gnadentod“ bezeichnet, bzw. verschleiert (in einem Regime, für das Gnade ohnehin ein Fremdwort war).

Die Propaganda gab sich Mühe, die Bevölkerung zu überzeugen, daß manches Leben „lebensunwert“ war, daß der Tod in solchen Fällen eine Gnade wäre. Es gab Filmchen, die empört verkündeten, was jene Menschen in Heil- und Pflegeanstalten (den Vorläufern der heutigen psychiatrischen Kliniken) den Staat und die so vielbeschworene Volksgemeinschaft kosten würden, wie wenig Nutzen sie hätten, ebenso wie einen ganzen Spielfilm aus dem Jahr 1941 mit dem Namen „Ich klage an“. In meinem Buch „Des Lebens labyrinthisch irrer Lauf“ beschreibt eine Mutter, deren Kind den T4-Morden zum Opfer fiel, den Film folgendermaßen:
„Eigentlich geht es um eine Frau, die wegen multipler Sklerose sterben möchte. Ihr Mann verabreicht ihr schließlich ein tödliches Mittel und kommt vor Gericht. Und, welche Überraschung! Der Arzt der Frau, der eine Tötung zuerst als unethisch abgelehnt hat, sieht das nun ganz anders! Der hat nämlich in der Zwischenzeit am Beispiel eines geistig kranken Kindes eingesehen, dass es viel gnädiger wäre, solche Menschen zu erlösen. Das sahen auch die Eltern des Kindes so. Letztlich ist der ganze widerliche Film also eine Werbung dafür, kranke Menschen zu eliminieren.“

Zum Glück gab es auch Leute, die es wagten, diese Morde öffentlich anzuprangern. Der Bekannteste ist sicherlich Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, dessen eindringlichen Predigt zu dem Thema unter anderem hier gelesen werden kann. Der Mut, der dazu gehörte, in solchen Jahren so offen zu sprechen, kann gar nicht genug gewürdigt werden. Auch andere sprachen öffentlich, Angehörige forschten nach, die Morde sprachen sich herum. Dies zeigte Wirkung, die Morde wurden größtenteils eingestellt. Man fragt sich wie beim Rosenstraßenprotest 1943 unwillkürlich, in welchen anderen Bereichen größere Proteste, eine entschiedenere Haltung Wirkung gezeigt haben könnten.

Es gab aber auch jene, die nicht glauben konnten, daß so etwas in Heil- und Pflegeanstalten geschieht. „Das sind Ärzte! Ärzte bringen keine Menschen um!“ ist eine Reaktion in meinem Buch und „Propaganda aus England und du bist nur zu willens, es zu glauben. So etwas passiert hier nicht.“ Aus heutiger Sicht mag diese Reaktion naiv wirken aber die Erkenntnis, daß Ärzte Leben vernichten und nicht erhalten, daß sie töten, nicht heilen – die war für jemanden mit dem damaligen Wissensstand und in einem Regime mit Zensur und Propaganda lebend nicht so leicht zu erlangen. Mir fiel es auch mit heutigem Wissen sehr schwer, wirklich zu begreifen, daß Ärzte so etwas tun konnten. Noch schwerer fiel mir das Verarbeiten der Information, daß einige dieser mörderischen Ärzte ihre Karriere nach dem Krieg nahtlos fortsetzen konnten.

Ich wußte seit meiner Jugend in etwa, was geschehen war. Hadamar, der Name einer dieser Heil- und Pflegeanstalten, die zu Tötungsanstalten wurden, war mir früh bekannt. Ich kann am entsprechenden Autobahnschild mit dem Namen nie vorbeifahren, ohne daran zu denken, was dort geschah. Grafeneck war mir ebenfalls als eine solche Tötungsanstalt bekannt. Menschen wurden dort und an anderen Orten vergast, zehntausende von ihnen, sie wurden mit Bussen in die sechs Tötungsanstalten gebracht. Das Denkmal der grauen Busse erinnert daran. Ich sah es vorletztes Jahr in Frankfurt, inmitten der fröhlichen Unbeschwertheit des Goetheplatzes, eine leise, eindringliche Erinnerung an die dunkelste Zeit des Landes direkt gegenüber vom Goethedenkmal.

Als ich für „Des Lebens labyrinthisch irrer Lauf“ detaillierter zu dem Thema recherchierte, gerade zu den T4-Morden an Kindern, erfuhr ich, daß die Morde auch durch Nahrungsentzug und tödliche Medikamente geschahen. Die Berichte über den qualvollen Todeskampf von so ermordeten Kindern waren schmerzhaft zu lesen. Ich gebe zu, ich wußte gar nicht, ob ich darüber schreiben könnte, aber es ging mir ja gerade darum, die vielfältigen Grausamkeiten jener Zeit und die Schicksale dahinter zu beschreiben. Nachdem ich die Szene schrieb, in der ein Kind so stirbt, habe ich einige Tage Pause vom Schreiben gebraucht.

Ein anderer Aspekt, der mich erschreckte war, mit welcher Sorgfalt versucht wurde, die Morde zu verschleiern. Die Toten wurden sofort kremiert, eigene Standesämter der Anstalten stellten Todesurkunden mit natürlichen Ursachen aus. Oft wurde schon vorher versucht, Besuche von Angehörigen zu erschweren. Aber es geschahen auch Fehler. Wie die Mutter des ermordeten Kindes in „Des Lebens labyrinthisch irrer Lauf“ feststellt: „Ich habe andere Mütter ausfindig gemacht und auch Verwandte von Erwachsenen, die in Heil- und Pflegeanstalten waren. Heil und Pflege! Welcher Hohn! Viele haben Todesnachrichten bekommen und es geht nicht mit rechten Dingen zu. Seit dem letzten Jahr sterben in diesen Anstalten Menschen, die vorher körperlich kerngesund waren! Es werden teilweise Todesursachen genannt, die nicht stimmen können. Jemand ohne Blinddarm verstirbt an Blinddarmdurchbruch!“

Es gab noch mehr Erschreckendes. Manche Eltern (ich habe mich bei der Recherche auf die Morde an Kindern konzentriert) waren durchaus einverstanden damit, daß ihre Kinder verstarben. Wenn in meinem Buch ein SS-Mann sagt: „Unsere tapferen Soldaten riskieren täglich ihr Leben und bringen Opfer, die Bevölkerung bringt Opfer, die verdammten Engländer bombardieren die Reichshauptstadt und hier sitzen nutzlose Esser und verschwenden wertvolle Ressourcen,“ dann ist das eine Aussage, die ich so oder ähnlich in zeitgenössischen Dokumenten gelesen habe, so widerlich es auch klingt.
Ein Arzt, der dann so antwortet, war leider auch nicht keine Ausnahme: „Die Kinder erhalten hier bereits wenig Nahrung, einige haben das nicht lange durchgestanden. Das ist für die Eltern oft eine Erleichterung und letztlich für das Kind auch. Wer will denn auf Dauer so leben?“
Weiter geht der Dialog zwischen Vater und Arzt im Buch so:
„Gerade in diesen Zeiten sollten wir uns darauf konzentrieren, Schwächen auszumerzen. Mit unseren Luftangriffen auf London haben wir es den Engländern jetzt richtig gezeigt, die Invasion ist nur noch eine Frage der Zeit und dann haben wir den Krieg gewonnen. Im Osten haben wir neuen Lebensraum, nun können wir die Weichen für eine bisher nie dagewesene Entwicklung unseres Volkes stellen.“
„Nicht alle Eltern sehen es so rational wie Sie.“
(…) „Manche verlieren sich eben in Sentimentalitäten. Vollendete Tatsachen helfen aber meistens, nach vorne zu blicken und diese Sentimentalitäten hinter sich zu lassen.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung Türe. „Die Beendigung mancher Situationen ist, wie Sie schon sagten, oft eine Erleichterung für alle Beteiligten.“
„Die Mütter neigen eben oft zu den von Ihnen erwähnten Sentimentalitäten. Ihre Frau…“
„Machen Sie sich um meine Frau mal keine Sorgen. Gegen vollendete Tatsachen kann auch sie nichts tun. Manche Dinge passieren eben, damit muss man sich abfinden.“

Nach herrschender Meinung war zumindest ein wesentlicher Anstoß für die Kindermorde ein Elternpaar, das an den Diktator direkt schrieb, mit der Bitte, ihrem behinderten Sohn den „Gnadentod“ zu gewähren. Der Fall ist hier gut erklärt, inklusive Informationen über die Recherche und den heutigen Informationsstand. Dies geschah in Leipzig, wo meine Schönau-Saga spielt, und Leipzig, in der Weimarer Republik führend in der Kinderpsychiatrie, wurde während der Dikatur führend im Ermorden eben dieser Kinder. Die „Heil- und Pflegeanstalt“ Leipzig-Dösen erlangte hier düstere Berühmtheit. Die Stadt Leipzig hat einen guten Überblick über dieses dunkle Thema der Stadtgeschichte verfaßt.

Eine Leserin schrieb in der Leserunde zu meinem Buch Folgendes, was mich sehr berührt hat: „In diesem Leseabschnitt hat mich ganz besonders (…)s Tod mitgenommen. Ich habe noch mal recherchiert und folgendes (…) gefunden: ‚Der Kinder-Euthanasie fielen in über 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ mindestens 5000 Menschen zum Opfer.‘ Normalerweise hätte ich den Satz gelesen und es schrecklich gefunden, aber nun, wo ich als Leser so mit der Familie Schönau verbunden bin (…), hat das noch mal einen ganz anderen Aspekt.“
Genau das wollte ich mit der Geschichte der Schönaus unter anderem erreichen – die Schicksale hinter den geschichtlichen Ereignissen zeigen. Bei der Recherche ging es mir ähnlich – die Fakten an sich sind schon entsetzlich, aber wenn man konkrete Schicksale erfährt, dann wirkt das noch viel stärker. Ich habe mich durch zahlreiche Biographien von T4-Opfern gelesen, die Bilder und Gedanken haben mich sehr beschäftigt, ich habe wesentlich mehr gelesen, als ich zur Recherche gebraucht hätte. Es gab dort Eltern und Angehörige, die verzweifelt um ihre Kinder gekämpft haben, deren Leid ich nicht annähernd ermessen kann. Eltern, die geglaubt haben, das Beste für ihre Kinder zu tun, indem sie sie in vermeintlich qualifizierte Pflege geben. Auch viele, die vom Regime unter Druck gesetzt wurden, ihre Kinder in Anstalten zu geben. Die Einzelschicksale zeigen eine Vielfalt an Leid, Kummer, Grausamkeit. Einige davon findet man auf diesen Seiten:

www.ns-euthanasie.de/index.php/opfer

www.gedenkort-t4.eu/de/biografien