Im zweiten Teil der Reise in der Leipzig der Schönaus befinden wir uns zuerst im Jahr 1922. Das dort erwähnte Confectionshaus Ebert ist heute Sitz der Commerzbank und wunderschön restauriert. An der Stelle des Kaufhauses Althoff findet sich noch bis Ende März 2019 Karstadt.
Luise hatte Lotte und Dorchen von der Schule abgeholt, um mit ihnen neue Kleider zu kaufen. Die beiden Mädchen waren aufgeregt und freuten sich auf ihre neuen Sachen. Es war bewölkt und für Juni recht kühl, aber das störte Lotte und Dorchen nicht.
„Wo gehen wir zuerst hin?“ fragte Lotte.
„Zu Ebert und dann zu Althoff. Wenn ihr brav seid, bekommt ihr anschließend noch einen Kakao im Riquet.“
„Oh fein!“ rief Dorchen und Lotte sagte: „Und den Goethe müssen wir begrüßen.“
Luise sah die Tochter verwirrt an und Lotte grinste. „Vati hält immer kurz bei der Goethestatue am Naschmarkt.“
„Herrje, euer Vater… – So, hier ist Ebert.“
Lotte und Dorchen sahen bewundernd an der prächtigen Fassade des Confectionshauses Franz Ebert hoch. Sie liebten das herrschaftliche Gebäude mit den opulenten Verzierungen und dem vergoldeten Giebelturm. Es herrschte samstägliches Treiben, aber in gediegener Atmosphäre. Luise und die Mädchen ließen sich Zeit, genossen den Anblick der vielen schönen Sachen und suchten sehr sorgfältig je ein Kleid für Lotte und Dorchen aus. Luise liebäugelte ebenfalls mit einem Kleid, entschied sich aber dagegen. Durch die starken Preisanstiege waren schon die Kleider der Mädchen kaum erschwinglich und der Ausflug ins Riquet würde sich finanziell ebenfalls bemerkbar machen. Trotzdem wollte Luise den Mädchen einen schönen Tag bereiten und ihnen qualitativ wertige Kleider kaufen. Wilhelm hatte sie ermutigt und gesagt: „Besser jetzt, bevor es noch teurer wird!“
Schließlich waren die ersten Einkäufe erledigt und Luise sah auf ihre Liste mit kleineren Anschaffungen. „Das bekommen wir alles bei Althoff.“
Sie ging mit den Mädchen auf die Thomasgasse hinaus und blieb dann überrascht stehen, weil die sorglose Atmosphäre auf den Straßen wie weggewischt war. Überall standen Menschen, die diskutierten, viele eilten mit erschrockenen Gesichtern vorbei. Verwirrt ging Luise mit Lotte und Dorchen Richtung Althoff, sah aber am Marktplatz eine große Menge, die sich um den runden Zeitungskiosk in der Mitte des Platzes scharte.
Luise hatte in den letzten Jahren zu viele Märsche, Demonstrationen und Unruhen mitbekommen, um ruhig zu bleiben und so sprach sie gegen ihre Gewohnheit einen Herrn an. „Entschuldigen Sie, ist etwas passiert?“
„Sie haben es noch nicht gehört? Rathenau wurde heute Morgen ermordet!“ Der Herr tippte an seinen Hut und eilte Richtung Zeitungskiosk.
Luise schnappte nach Luft, Lotte und Dorchen sahen sie mit großen Augen an. „Ermordet,“ murmelte Lotte.
„Wir gehen ein anderes Mal weiter einkaufen. Wir gehen besser erst mal zur Kanzlei,“ sagte Luise.
„Wieso denn?“ fragte Dorchen. „Wer ist denn dieser Rathenau?“
Lotte verdrehte die Augen. „Das ist der Außenminister. Der mit Rapallo, worüber Großmutter sich so aufgeregt hat.“
„Und wegen dem können wir jetzt nicht mehr einkaufen gehen? Weil er ermordet wurde?“
„Ja,“ sagte Luise knapp. „Ich weiß nicht, ob es Unruhen gibt, dann sollten wir nicht hier sein. Außerdem wäre es…nicht angemessen. Ein umsichtiger und guter Mensch wurde ermordet, Dorchen, da geht man nicht einfach weiter einkaufen.“
Sie dirigierte die Kinder am Alten Rathaus vorbei über den Marktplatz und hatte in wenigen Minuten die Kanzlei erreicht. Die Sekretärin saß mit verweinten Augen an ihrem Schreibtisch und Wilhelm kam aus seinem Büro. „Fräulein Winter, so gehen Sie nach Hause, Sie sind ganz aufgelöst.“
„So ein feiner Mensch und so brutal erschossen! Was ist denn das nur für eine Welt geworden?“ schluchzte die Sekretärin. Wilhelm sah Luise an und sie nickte und sprach ruhig mit Fräulein Winter, während Wilhelm Lotte und Dorchen in sein Büro führte, wo auch schon Albert Kron saß und die druckfrische Zeitung anstarrte. Er sah auf, lächelte die Mädchen trübe an.
„Ein trauriger Tag,“ sagte er. „Einfach im Auto abgeknallt, das ist eine Schande.“
„Warum haben sie ihn umgebracht?“ fragte Lotte.
„Weil sehr primitive und brutale Leute mit ihm nicht einverstanden waren,“ seufzte Wilhelm.
„Dafür bringt man jemanden doch nicht um,“ sagte Lotte. „Ihr wart auch nicht alle mit ihm einverstanden.“
Wilhelm sah die Tochter überrascht an, er wusste nicht, dass sie den Gesprächen der vergangenen Wochen öfter aufmerksam zugehört hatte. Es erfreute ihn, dass sie Interesse zeigte und erinnerte ihn daran, dass sie kein kleines Mädchen mehr war, sondern fast schon ein Backfisch.
„Tja, Lotte, leider denken manche Leute da anders.“
Albert murmelte: „Und wenn einer dann noch Jude ist, dann fällt’s ihnen noch leichter, ihn umzubringen.“
Nun kam auch Luise hinein. „Fräulein Winter ist gegangen. Die Arme war gar nicht zu beruhigen.“
„Sie hat Rathenau sehr verehrt,“ meinte Wilhelm. „Na ja, wir gehen jetzt auch nach Hause. Ein trauriger Tag.“
Wie das Land kommt auch die Familie Schönau in den 1920ern kaum zur Ruhe. Die beiden im oberen Textauszug gekauften Mädchenkleider haben zusammen schon fast 1.000 Mark gekostet, die ersten Vorboten der Inflation machten sich bereits bemerkbar. 1923 bricht der Wahnsinn komplett aus, das Geld verliert innerhalb von Stunden den Wert, die Nahrungsversorgung ist dadurch erneut schwierig. Die falschen Leute nutzen die Krisen für politische Propaganda.
Als der Dollarkurs im August über Nacht von 1,65 Millionen auf 3,3 Millionen sprang, zur Mitte der Woche auf fast 5 Millionen kletterte und zum Ende der Woche bei 3,9 Millionen ankam, beschloss Wilhelm, dass es Zeit für eine Aufheiterung inmitten dieses Wahnsinns war. Er opferte einen seinen Notfalldollar, um seiner Familie ein schönes Wochenende ermöglichen zu können und verkündete am Sonntag beim Frühstück: „Heute machen wir einen Ausflug zum Völkerschlachtdenkmal und dann gehen wir ins Königin-Luise-Haus und essen mal wieder ausgiebig.“
Die Kinder jubelten. Ausflüge waren nicht ungewöhnlich, Luise und Wilhelm legten Wert darauf, an den Sonntagen etwas mit der ganzen Familie zu unternehmen, vorzugsweise etwas, das für die Kinder lehrreich war. Es fanden sich genügend Ziele, die auch ohne Geldausgaben zu besuchen waren. Auswärts gegessen hatte die Familie aber schon seit Monaten nicht mehr.
Der letzte Besuch beim Völkerschlachtdenkmal war ebenfalls schon lange her, Heinrich erinnerte sich gar nicht mehr daran und rief beim Anblick des riesigen Monuments: „Ist das groß!“
„Es erinnert auch an etwas Großes,“ sagte Wilhelm. Während die Familie am Wasserbecken entlang ging, erzählte er die Geschichte der Völkerschlacht. Er tat dies so lebhaft und anschaulich, dass auch Lotte, Dorchen und Johann, die von der Schlacht schon oft gehört hatten, gebannt zuhörten. Luise warf manch besorgten Blick auf Heinrich, wenn die Schilderungen der Kämpfe und der elenden Zustände in der Stadt zu deutlich wurden. Heinrich aber verschlang jedes Wort.
Schließlich endete Wilhelm mit: „Und so haben die Deutschen durch Zusammenhalt die Franzosen nach vielen Jahren endlich aus dem Land vertrieben.“
„Na ja, ihr Sachsen habt am Anfang eher mit Napoleon zusammengehalten,“ sagte Luise keck.
„Relevant ist das Ergebnis,“ erwiderte Wilhelm mit einem scherzhaft-strafenden Seitenblick auf seine Frau, während Lotte und Dorchen kicherten.
Inzwischen waren sie vor dem Denkmal angekommen. Heinrich legte den Kopf ganz in den Nacken, um an der enormen Fassade hinaufzublicken. „Das hört ja gar nicht mehr auf.“
„Siehst du ganz oben an der Kuppel die Wächter? Jeder stützt sich auf sein Schwert und wacht über die Toten und die Freiheit.“
„Und der da?“ fragte Heinrich und wies auf die behelmte grimmige Figur direkt über der Türe.
Wilhelm erklärte Heinrich die Figuren und Reliefs an der Vorderseite des Denkmals. Lotte und Dorchen schlenderten mit der Mutter umher und genossen das milde Wetter. Schließlich ging die Familie hinein, wo Heinrich sich in der Krypta vor den Schicksalsmasken erschreckte. Lotte schlenderte für sich alleine durch die Krypta, deren ehrfurchtsgebietende Atmosphäre sie immer wieder beeindruckte. Sie sah, wie Heinrich mit großen Augen umherschaute, überwältigt davon, wie riesig alles war, und lächelte.
Ihr letzter Besuch beim Denkmal war mit der Schule gewesen, der Lehrer hatte dramatisch und unablässig auf die Symbolkraft hingewiesen, die damalige Größe Deutschlands beschworen, die 1918 hinterhältig von Sozis und Juden zerstört worden sei, als sie dem Land mit der unnötigen Kapitulation den Dolchstoß versetzten. Die Reden waren Lotte unangenehm gewesen, denn ihr Vater hatte ihr oft erklärt, dass die deutsche Armee keineswegs so ungeschlagen war wie oft behauptet wurde.
„Wir hätten nicht siegen können, durchhalten auch nicht mehr lange,“ sagte er stets. „Der Versailler Vertrag ist ungerecht und beschämend, aber wir hätten den Krieg niemals gewonnen. Der Waffenstillstand war notwendig.“
Lotte, die sich nur zu gut an die Not der letzten Kriegsjahre erinnerte, glaubte dem Vater und nicht den tönenden Reden des Lehrers und vieler anderer.
Schließlich wurde Heinrich müde und die Familie verließ das Denkmal und spazierte gemütlich zum Königin-Luise-Haus, wo Wilhelm sagte: „Bestellt euch, was ihr möchtet. Aber wenn ihr Nachtisch wollt, dann müsst ihr vorher auch alles aufessen – kein Essen verschwenden!“
Die Ermahnung war unnötig, es blieb kein Krümel übrig und eine gutgelaunte Unterhaltung begleitete das gesamte Essen. Es war ein besonderer Tag, die Laune war entsprechend ausgelassen. Johann fotografierte eifrig und Dorchen sagte: „Als der Kaiser damals zur Denkmalseröffnung hier war, ist er sicher nicht so oft fotografiert worden wie wir heute.“
„Ich hab ihn damals gesehen!“ rief Lotte. Der Tag der Eröffnung war ihr nur noch vage im Gedächtnis, aber diesen Moment wusste sie noch ganz genau.
Dorchen gähnte übertrieben, sie hatte die Geschichte schon zu oft gehört. Lotte streckte ihr die Zunge raus, während Wilhelm mit einem Stapel von Fünfzig- und Hundertausendmarkscheinen die Rechnung bezahlte. „Es bleibt gerade noch genug übrig für zwei Gläser Sekt im Gewandhaus heute Abend,“ sagte er zu Luise.
„Ich freue mich auf das Konzert. Es ist so lange her.“
„Es wird ein schöner Abend werden. – Johann, warum hast du mich beim Bezahlen fotografiert?“
„Es ist ein historischer Moment, gewissermaßen. Irgendwann werden die Leute es nicht glauben können, dass man mal ein Mittagessen mit einem solchen Stapel Geld bezahlen musste.“
Wilhelm nickte anerkennend. „Wenn es so weitergeht, wirst du bald noch viel größere Stapel Geld fotografieren müssen. – So, jetzt aber ab nach Hause.“